Interview mit Marco Maurizi

Am 14. November 2010 sprach Marco Maurizi in Zürich im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Theorie um Tierbefreiung“ über „Marx und die Versklavung der Natur“. Wir haben die Gelegenheit genutzt, um mit ihm ein Interview zu führen. Marco Maurizi ist Philosoph aus Italien mit Forschungsschwerpunkten in der Marxschen Gesellschaftstheorie und der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Er ist Redakteur der antispeziesistischen Zeitschrift „Liberazioni“, sowie Autor von „Adorno e il tempo del non identico“ und La nostalgia del totalmente non altro. Cusano e la genesi della modernità“. Auf Deutsch veröffentlichte er die Aufsätze „Marxismus und Tierbefreiung“ und „Die Zähmung des Menschen“ im Sammelband „Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen“.

TRGZH: In deinen Aufsätzen kritisierst du das Verständnis von Speziesismus in der Moralphilosophie als metaphysisch. Kannst du ausführen, was du unter diesem metaphysischen Antispeziesismus verstehst?

Marco Maurizi: Der Begriff des Antispeziesismus stammt aus dem philosophischen Diskurs. Philosophen wie Peter Singer, Tom Regan bis hin zu Francione und Dunayer kümmern sich nur um philosophische Argumentationen. Wenn sie von Speziesismus sprechen, sprechen sie eigentlich von Sätzen. Sie bezeichnen lediglich gewisse philosophische Rechtfertigungen von Handlungen als speziesistisch, dies heisst jedoch nicht, dass die Handlungen speziesistisch sind. Die AktivistInnen besitzen meiner Meinung nach ein wichtigeres Verständnis von Speziesismus. Sie meinen mit Speziesismus ein Synonym für Anthropozentrismus, ein kulturelles und materielles System. Das Problem ist nun, dass viele AktivistInnnen versuchen die ethischen Begriffe von Singer und Regan politisch zu verwenden. Sie knüpfen an die moralischen Diskurse an, um dieses System zu beschreiben, anstatt es geschichtlich und gesellschaftlich zu kritisieren, um so einen politischen Begriff von Speziesismus zu gewinnen. Daher gehen sie davon aus, dass Speziesismus ein moralisches Vorurteil ist, welches bestimmte Aktionen produziert. Ich denke es ist gerade umgekehrt. Wir beuten Tiere nicht aus, weil wir sie für niedriger halten, sondern wir halten Tiere für niedriger, weil wir sie ausbeuten. Wenn man glaubt, dass die Ideen die Geschichte bestimmen, ist dies eben eine metaphysische Konzeption. Meiner Meinung nach müssen wir Speziesismus historisch erklären. Das heisst, Speziesismus nicht nur als Ideologie, sondern auch als Praxis zu begreifen.

Bei Marx und Engels findet sich kein Wort über Tierbefreiung. Wieso bist du trotzdem davon überzeugt, dass der historische Materialismus eine notwendige Voraussetzung für eine radikale antispeziesistische Theorie darstellt?

Marx kann uns in zwei verschiedenen Richtungen helfen. Auf der einen Seite können wir ohne historischen Materialismus keine Genese des Speziesismus erklären. Eben wegen der Differenz zwischen Ideologie und Praxis. Marx lehrt uns, wie man die Geschichte durch diese zwei Ebenen, den Überbau und die materielle Struktur der Gesellschaft, erklären kann. Auf der anderen Seite bietet uns Marx eine Analyse des Kapitalismus. Da die Herrschaft über die Natur und die Herrschaft über den Menschen miteinander verbunden sind, müssen wir die heutige Gestalt der Herrschaft über den Menschen bekämpfen. Dies geht ohne die Marxsche Analyse des Kapitals nicht. Ich glaube natürlich nicht, dass Marx eine nicht-speziesistische Gesellschaft beschreiben kann, aber er gibt uns die Instrumente, um die heutige Gesellschaft abzuschaffen und dies ist die Voraussetzung für eine freie Gesellschaft, auch im Sinne einer antispeziesistischen Gesellschaft.


Die hegelsche Dialektik von Herr und Knecht scheint auf Tiere nicht anwendbar zu sein. Wie können sie trotzdem Subjekte einer Befreiung werden?

Ich glaube, dass die hegelsche Dialektik nicht direkt auf Tiere anwendbar ist. Aber in gewisser Weise kann man schon sagen, dass die Dialektik von Herr und Knecht uns etwas Interessantes über das Mensch-Tier Verhältnis sagen kann. Hegel sagt, dass ein Herrschaftsverhältnis einen Widerspruch ausdrückt. Die Mensch-Tier Beziehung ist somit als Herrschaftsverhältnis auch ein Widerspruch. Der Widerspruch liegt darin, dass wir Tiere ausbeuten, weil wir uns als Nicht-Tier vorstellen. Diesen Widerspruch gilt es aufzulösen. Ich würde deshalb sagen, dass eben weil wir Tiere sind, ist das Subjekt der Tierbefreiung der Mensch, nämlich der Mensch als Tier. Wenn wir dies nicht verstehen, entsteht die seltsame Situation, dass das Subjekt der Befreiung nicht identisch ist mit dem Subjekt, welches befreit werden soll. Nur wenn wir davon ausgehen, dass wir Menschen als Tiere alle anderen Tiere befreien, gibt es die Übereinstimmung zwischen Subjekt und Objekt der Befreiung.

Die Linke sieht in den Forderungen für eine Befreiung der Tiere nach wie vor einen moralischen Fundamentalismus und keine politische bez. emanzipatorische Theorie. Was braucht es, um die auf die Vorherrschaft des Menschen pochende, anthropozentrische Sichtweise der Linken zu überwinden?

Wir müssen ihnen eine bessere soziologische und politische Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft bieten. Es gibt nur diese Möglichkeit. Wir müssen ihnen das Befreiungspotential eines Kampfes gegen die Naturbeherrschung aufzeigen. Wenn wir dies nicht tun, bleiben wir immer auf einem ethischen Niveau und dann ist natürlich auch keine Diskussion möglich.

Siehst du eine implizite Verbindung zwischen Sexismus, Rassismus und Speziesismus, wie viele TierrechtsaktivistInnen argumentieren?

Ja, aber auch nein. Viele AntispeziesistInnen nehmen an, dass Sexismus, Rassismus und Speziesismus ähnlich oder sogar das Gleiche sind, weil sie auf einer moralischen Betrachtungsebene bleiben. Daneben gibt es auch AntispeziesistInnen, welche meinen eine solche Verbindung auch historisch aufzeigen zu können. Zuerst sei der Speziesismus entstanden, dann Sexismus und zum Schluss Rassismus. Dies ist aus einer historischen Perspektive natürlich völlig falsch. Ich denke aber, dass man historisch beweisen kann, dass ohne die symbolische Differenzierung zwischen Mensch und Tier, die sexistische oder rassistische Diskriminierung nicht möglich sein würde. Man kann die Frauen nicht zu Tieren bestimmen, wenn man nicht schon vorher den Unterschied zwischen Mensch und Tier produziert hat. Ich glaube, dass wir darüber noch viel arbeiten müssen. Es gibt sicherlich einen Zusammenhang zwischen diesen verschiedenen Formen von Diskriminierung, die Analyse muss aber auf einem historischen und politischen Niveau geschehen.

Adorno und Horkheimer haben in der Dialektik der Aufklärung herausgearbeitet, dass der Zivilisationsprozess des Menschen durch eine Entfremdung von der Natur und somit auch durch eine Selbstentfremdung gekennzeichnet ist. Bedeutet dies nun, dass wir, um eine Befreiung der Tiere zu erreichen, das Rad der Geschichte zurückdrehen müssten?

Meine Antwort ist natürlich nein, wie auch Adorno und Horkheimer geantwortet hätten. Wie schon gesagt, gibt es einen Widerspruch am Anfang der Zivilisation, nämlich den Widerspruch zwischen Mensch und Tier. Der Mensch stellt sich als Nicht-Tier vor und wir müssen diesen Widerspruch auflösen. Gleichzeitig haben schon Adorno und Horkheimer aufgezeigt, dass die Zivilisation die Erfahrung des Grauens in der Natur ausdrückt, welche die ersten Menschen empfunden haben und wir immer noch empfinden. Die Natur ist für uns immer etwas Gefährliches, weil sie kein moralisches Interesse am Leben hat. Doch erst durch die Zivilisation entstand für den Menschen die Möglichkeit eine Solidarität mit allen Tieren auszudrücken. Diese Möglichkeit bestand vor der Zivilisation nicht und deshalb bin ich nie zufrieden, wenn ich John Zerzan lese, welcher über ein Paradies schreibt, dass wir verloren haben sollen. Es gab nie ein Paradies auf Erden, sowie es auch nie einen bestimmten Anfang der Beherrschung der Natur gab. Es stimmt zwar, dass es in den Jäger- und Sammlergesellschaften eine gewisse Gleichheit zwischen Mensch und Tier gab, aber es gibt keine bestimmte Phase in der Evolution zur Stammgesellschaft von der man sagen kann, hier hat dies alles angefangen. Schon die Jäger- und Sammlergesellschaft hatte eine instrumentelle Vernunft und hat der Natur Gewalt angetan. Diese Gewalt ist jedoch dasjenige, was wir nicht mehr wollen.

Die widersprüchliche Sicht des abendländischen Menschen auf die Natur zwingt ihn in ein Dilemma. Da ist auf der einen Seite die wilde, die grausame Natur welche es zu unterdrücken und zu kontrollieren gilt und auf der anderen Seite die romantische Sehnsucht nach dem „edlen Wilden“ oder dem „friedlichen Miteinander“ in der Natur. Was versteht Marx(ismus) unter Natur?

Bei Marx gibt es keinen eindeutigen Begriff von Natur. Es gibt bestimmte Tendenzen in den Marxschen Schriften, welche man verschieden betonen kann. Es gibt Ansätze einer Idee von Versöhnung mit der Natur. Zum Beispiel, wenn Engels in der Dialektik der Natur schreibt, dass man die Natur nicht mehr wie ein Herr beherrscht. Jedoch ist nicht klar, was dies bei Marx und Engels heisst und sie haben darüber auch gar nicht gearbeitet. Dennoch haben sie in gewisser Weise das widersprüchliche Verhältnis zwischen Mensch und Natur bereits vorausgesehen. Die Antwort liegt meiner Meinung nach in der Frankfurter Schule. Adorno hat zum Marxschen Begriff von Natur gearbeitet und er schreibt, das Problem bei Marx sei, dass Natur nie als Subjekt begriffen wird. Auf der anderen Seite hat Adorno die Gewalt der Natur im Denken so entwickelt, dass sich zeigt, dass der Geist, welcher sich als nicht Natur stellt, immer noch Natur ist. Der Geist ist bloss maskierte Natur. Die Gewalt der Natur schlägt sozusagen in Geist um. Das Problem der Zivilisation ist es die Lüge des Geistes aufzulösen und neue Verhältnisse in die Natur einzuführen. Im Geist liegt aber auch ein Potential, welches darauf wartet realisiert zu werden. Wenn wir von Solidarität sprechen meinen wir genau dieses Potential.

Die menschliche Identität konstituiert sich in Abgrenzung zum Tier. Welche Funktionen siehst du in dieser Ideologie um „das Andere“?

Auf der einen Seite ist die Vorstellung, dass Tiere „das Andere“ sind ideologisch. Wir benutzen diese Idee, um Tiere besser auszubeuten. Wir betonen Differenzen, die nicht wesentlich sind, wir übersehen Analogien, welche essentiell sind. Aber es gibt auch eine reelle Seite. Der Mensch will anders sein. Adorno spricht von der Gleichgültigkeit der Natur gegenüber Schmerz und Sterben, welche wir nicht wollen. Es stimmt zwar, dass viele Tiere ein Mitgefühl für andere Tiere fühlen können, aber nur der Mensch kann ein universelles Mitgefühl mit allen Tieren ausdrücken. Das können wir, weil wir durch die Zivilisation die Möglichkeit erlangt haben, die Natur als Ganzes zu konzipieren und das Grauen daran sehen.

Was ist für dich Veganismus? Ein Boykott oder wo liegt die Logik dahinter?

Ja, Veganismus ist auf eine Art ein ganz spezieller Boykott und wie alle Boykotte in der kapitalistischen Gesellschaft ist er hoffnungslos. Es ist eine Illusion, dass keine Tiere mehr für einen getötet werden, solange man Teil dieser Gesellschaft ist. Die kapitalistische Gesellschaft funktioniert zwar durch die Individuen, aber sie funktioniert auch auf einer höheren Ebene durch Strukturen, welche die Individuen nicht kontrollieren können, sondern diese durch die Strukturen kontrolliert werden. Aber ich glaube es ist nicht sinnlos individuell so zu handeln, wie man sich eine freie Gesellschaft vorstellt. Eine Gesellschaft in der es keine Herrschaft über Menschen und Tiere gibt ist eine Gesellschaft ohne Fleischindustrie, ohne Tierversuche, usw. Der Veganismus ist, meiner Meinung nach, die einzige Möglichkeit eine solche Gesellschaft vorzusehen und praktisch zu beweisen, dass sie möglich ist. Natürlich kann man sich eine zukünftige, herrschaftsfreie Gesellschaft nicht genau vorstellen und darum ist es nicht möglich zu sagen, was man in einer freien Gesellschaft tun oder nicht tun müsste. Ich sehe deshalb ein Problem darin, wenn VeganerInnen meinen, andere davon überzeugen zu können, dass diese falsch handeln. Das Beste was wir tun können, ist ein gutes Beispiel abzugeben.

Im Juni 2010 erschien die erste Ausgabe einer neuen “Zeitschrift für Kritik” welche sich dem Thema Antispeziesismus annimmt. Du bist einer der Redaktoren von Liberazioni. Kannst du etwas zum Hintergrund dieses Projektes erzählen?

Liberazioni existiert seit 2005 als Website im Internet. Am Anfang waren wir drei Leute. Inzwischen sind wir in der Redaktion 10 Personen und es gibt noch Weitere, welche am Projekt mitwirken. Zu Beginn stand die Idee, eine soziologische Analyse anzubieten, bei welcher die Herrschaft über den Menschen und die Herrschaft über die Tiere gleichzeitig kritisiert werden. Nun versucht Liberazioni auch die Debatten in der italienischen Tierbefreiungsbewegung auf ein höheres Niveau zu bringen. Es gibt, zumindest in Italien, viele AntispeziesistInnen, welche nicht diskutieren können, sondern immer wieder streiten. Die Auseinandersetzungen werden persönlich genommen und die Ideen und Begriffe werden nicht analysiert und kritisiert. Ich denke dies hängt mit unserer Situation als kritische Bewegung zusammen. Wir kritisieren die Zivilisation, wir sind sozusagen, auch kulturell gesehen, am Rande der Zivilisation. Viele AntispeziesistInnen glauben daher, dass die Kultur sie nicht zu interessieren habe, da sie gänzlich speziesistisch ist. Dies müssen wir ändern. Wir müssen fähig sein, kulturelle Begriffe zu gebrauchen, wir müssen eine antispeziesistische Bildung, eine antispeziesistische Kultur herstellen und verbreiten. Dies versuchen wir, da wir es als wichtigen Teil des Kampfes für eine antispeziesistische Gesellschaft ansehen.

Vielen Dank für das Interview!

http://www.tierrechtsgruppe-zh.ch/?p=1344

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