Die Zivilisation muss nicht abgeschafft, sondern überholt werden

Interview mit Marco Maurizi, Burg Lohra, August 2009
Auch das folgende Interview wurde im Rahmen des Tierbefreiungskongresses 2009 auf der Burg Lohrageführt. Der Philosoph und Musiker Marco Maurizi, u.a. in der Redaktion der Zeitschrift für antispeziesistische Kritik "Liberazioni", spricht über die Kritische Theorie der Frankfurter Schule als Grundlage für eine - noch zu leistende - Theorie zur Befreiung der Tiere und über das dialektische Verhältnis von Vernunft und Natur. Zu hören war das Interview bereits im Anarchistischen Radios auf Radio Orange 94.0 als Teil der Sendung vom 20. September 2009.
Marco, Du hast einerseits bei einer
Podiumsdiskussion einen Standpunkt vertreten, andererseits hast Du auch einen Vortrag gehalten. Wenn wir zuerst zur Podiumsdiskussion gehen: Magst Du kurz zusammenfassen, wenn das geht, worum es da für Dich ging, was die wesentlichen Punkte waren?

Marco Maurizi: Bei der Podiumsdiskussion war ich sozusagen der Vertreter der Kritischen Theorie und des Historischen Materialismus, während die anderen Theorien die Moralphilosophie und der Poststrukturalismus waren. Ich habe versucht, das dialektische Verhältnis zwischen Mensch und Tier, Vernunft und Natur darzustellen und dieses Verhältnis geschichtlich und gesellschaftlich zu bearbeiten. [Handout mit Zitaten als PDF]

Das heißt, man kann diese Beziehung zwischen Vernunft und Natur, zwischen Mensch und Tier nicht erklären, wenn man die echte Geschichte, also was tatsächlich in unserer Vorgeschichte und unserer Geschichte passiert, nicht denkt. Und meiner Meinung nach hat in unserer Geschichte die neolithische Revolution eine ganz wichtige Stellung, also dieser Übergang von nomadischen Gesellschaften zu sesshaften Gesellschaften. Wobei man auch bedenken muss, dass die Menschen [zu diesem Zeitpunkt] angefangen haben, Tiere zu züchten und Pflanzen zu domestizieren, also Ackerbau. Das war schon eine Revolution in unserem Verhältnis zur Natur, weil die anderen Spezies, die anderen Arten, die anderen Tiere und Pflanzen, dadurch ihre Selbstständigkeit verloren haben. Das ist das Geburtsdatum der Herrschaft überhaupt, der Herrschaft über die Natur, aber auch der Herrschaft über den Menschen, weil man auch das Geburtsdatum des Staates zu diesem zeitlichen Punkt zurückführen kann. Und meine Ansicht ist, dass wir durch die Zivilisation, durch die Beherrschung der äußeren und inneren Natur, Ideen von Gerechtigkeit, Frieden, Solidarität hergestellt haben, die uns von der natürlichen Welt unterscheiden - obwohl man auch sagen muss, dass diese Ideen nie verwirklicht wurden. Und die Frage ist nun, ob wir diese Ideen als bloße Selbstillusion denunzieren müssen oder ihren Wahrheitsinhalt bewahren, zu versuchen, sie zu realisieren. Und natürlich hat die Kritische Theorie sich letzteres als Ziel gewählt.
Wie Du gesagt hast sind auf dem Podium auch Vertreter_innen anderer Richtungen gesessen. Vielleicht magst Du kurz erzählen, in welchem Verhältnis zu diesen Theorien Du Dich siehst, womit Du etwas anfangen kannst, was Du nicht nachvollziehen kannst?

Zur Moralphilosophie würde ich sagen, dass es sich dabei um einen Bereich handelt, wo keine Rede von Geschichte und Gesellschaft ist. Für die Moralphilosophie ist der Mensch als Individuum wichtig, Ethik hat mit dem individuellen Handeln zu tun und nicht mit gesellschaftlichem Handeln - dieses gehört natürlich zur Politik oder zur Kritik der Politischen Ökonomie. Und ich sehe auch insofern ein Problem mit der Moralphilosophie, dass sie sich kaum für Geschichte interessiert. Es gibt natürlich auch Moralphilosophien, die sich als geschichtlich denken, zum Beispiel der Relativismus, wo man sagen kann: Jede Gesellschaft begründet ihre Moral, Weltanschauung unterschiedlich. Aber daraus müssten wir auch schließen, dass es keine generelle Moralphilosophie gibt. Also in Bezug auf Moralphilosophie im Sinne einer universellen Theorie des menschlichen Handelns muss man sagen, dass da Gesellschaft und Geschichte kein Thema sind. Und in diesem Sinne würde ich sagen, dass die Kritische Theorie oder der Marxismus einen Schwerpunkt genau in dem Versuch hatten, Geschichte und Gesellschaft als fundamental, als das Allerwichtigste für das Verständnis des menschlichen Bewusstseins und des menschlichen Handelns zu betrachten.
Von der anderen Seite versucht der Poststrukturalismus die Begriffe der westlichen Tradition zu dekonstruieren, wie sie sagen, und natürlich kann dann im Poststrukturalismus nicht von Natur an sich die Rede sein, von Vernunft oder auch vom Menschen oder was weiß ich - alle diese Begriffe müssen dekonstruiert werden. Das Problem hier ist, dass Natur eigentlich kein Begriff ist, sondern ein Prozess. Ich habe versucht, die Natur als den Prozess darzustellen, wo der Mensch sich anders als die Natur vorstellt, aber gleichzeitig diese Selbstvorstellung des Menschen eine Illusion ist. Es gibt also ein Versagen des Geistes, sich als anders als die Natur darzustellen. Diesen Prozess kann man nicht dekonstruieren, weil wir uns immer schon in diesem Prozess befinden. Es ist unmöglich, aus diesem Prozess heraus zu springen und sich von draußen zu denken, zu dekonstruieren. Was wir machen können, was die Kritische Theorie versucht zu tun, ist Natur und Vernunft als Gegenpole eines Prozesses zu verstehen. Wobei man auch sagen muss: Wenn wir von Natur sprechen, sind wir nicht außerhalb dieses Prozesses, sondern wir befinden uns in diesem Prozess. Und genau deshalb können wir nicht von Natur und Vernunft als zwei verschiedenen Sachen reden, sondern wir müssen sie immer in einer Beziehung, einer dialektischen Beziehung, erklären.
Wenn wir nun zum Thema Naturbeherrschung zurückkommen - inwiefern sieht du diese nicht isoliert von der Beherrschung des Menschen durch den Menschen, sondern damit verbunden?
Bei der Podiumsdiskussion habe ich mit einem Zitat von Max Horkheimer angefangen, der sagt: Die Naturbeherrschung schließt die Menschenbeherrschung ein. Das heißt, es gibt eine Zirkularität zwischen Naturbeherrschung und Menschenbeherrschung - und das kann man geschichtlich erklären. Zur Beherrschung der äußeren Natur durch die Arbeit war eine gewisse Beherrschung der inneren Natur notwendig. Das heißt, um die Natur durch Arbeit zu beherrschen, müssen die Menschen zuerst ihre eigenen Instinkte, Gefühle und Bedürfnisse, Begierden kontrollieren - man spricht hier von dem Ich als Kontrollinstanz der inneren Natur.

Gleichzeitig hat die Beherrschung der äußeren Natur es uns ermöglicht, ein gewisses Surplus in der ökonomischen Produktion herzustellen. Das heißt eine Steigerung der Produktion, die auch die Klassengesellschaften ermöglicht hat - es gibt keine Klassengesellschaft ohne ein Surplus, ein gesellschaftliches, ein ökonomisches Surplus, das einige sich aneignen, während andere arbeiten.

Aber gleichzeitig gibt es eine dritte Stufe: Diese Spaltung der Gesellschaften in die Eliten, die nicht arbeiten, und die arbeitende Klasse, hat auch den Unterschied zwischen händischer und geistiger Arbeit hervorgebracht. Und eben durch diese neue Ebene werden die geistigen Waffen produziert, durch die die Menschen die Natur immer besser beherrschen können. Und hier steht sozusagen die Zirkularität, weil die geistige Entwicklung des Menschen wieder der verbesserten Ausbeutung der Natur zugutekommt.

Daran anschließend hätte ich eine Fragen, sie betrifft die Herrschaft über die innere Natur: Wenn wir von Naturbeherrschung oder von der Herrschaft von Menschen über andere Menschen reden, gehen wir davon aus, dass wir diese vielleicht eines Tages beenden können. Wie ist das mit der Herrschaft über die innere Natur? Gibt es da einen Ausweg oder ist das eine Notwendigkeit für jede Form von Zusammenleben?

Ich würde sagen, dass eine gewisse Beherrschung der inneren Natur nicht abgeschafft werden kann, sonst würden die Menschen sich wieder zum Tier verwandeln - das Problem dabei ist, dass die Zivilisation wieder anfangen könnte (lacht). In diesem Sinne würde ich sagen: Nein, die Zivilisation muss nicht abgeschafft werden, sondern sie muss überholt werden, das heißt wir müssen einen nachzivilisatorischen Zustand erreichen. Wie das aussehen soll, ist schwierig zu beantworten. Die Frankfurter sprechen von einer Versöhnung zwischen Mensch und Tier, zwischen Vernunft und Natur. Versöhnung heißt aber nicht Gleichsetzung, also nicht Ununterscheidbarkeit, sondern eben dass zwei verschiedene Pole sich in Stellung setzen und sich gegenseitig respektieren. Das ist das Bild von Frieden bei Adorno: Ein Zustand, wo keiner dem anderen Gewalt antut.
Nur eine schnelle Nachfrage: Du hast gemeint, der Mensch würde wieder zum Tier werden. Wie kann man sich das vorstellen? Der Mensch als ein Tier,  zu welcher Art Tier könnte ein Mensch denn werden?

Was ich damit sagen wollte, ist dass wenn die Beherrschung über die innere Natur abgeschafft werden würde, dann würde der Mensch nicht mehr in der Lage sein, seine Solidarität mit anderen Wesen universell auszudrücken. Das heißt, das Problem ist, wenn man von einem „tierischen Verhalten“ sozusagen sprechen kann, dann geht es immer um Selbsterhaltung. Es gibt natürlich auch bei Tieren Mitgefühl, auch Mitgefühl für andere Arten von Tieren, aber dieses Mitgefühl kann natürlich nicht universell sein, also nicht für alle Tiere, nicht für alle Lebewesen. Und warum? Wahrscheinlich nur, weil die Erfahrung der Tiere sich immer in einer begrenzten Umwelt bewegt. Zum Beispiel haben Fische keine Ahnung von Hunden (lacht), während der Mensch auch eine Solidarität mit Hunden und mit Fischen haben kann. In diesem Sinne habe ich gesagt, wenn wir die Zivilisation abschaffen, dann gibt es keine Möglichkeit mehr, die Solidarität mit allen Tieren auszudrücken, wir würden einfach zurück zu unserer „tierischen Selbsterhaltung“ zurückkehren. Obwohl man hinzufügen muss, dass die instrumentelle Vernunft, also die Gestalt der Vernunft, die wir heute benützen und erleben, genau etwas „Tierisches“ an sich hat, insofern als die instrumentelle Vernunft sich andere Tiere aneignet und das Leben anderer Tiere zerstört, genauso wie andere Tiere es mit anderen Tieren tun.
Wenn Du Begriffe wie „tierische Selbsterhaltung“ verwendest und mit instrumenteller Vernunft in Verbindung bringst, dann drängt sich mir die Idee auf, dass es dabei nicht um konkrete, reale Tiere geht, um das Leben von vielleicht auch sozialen Tieren, sondern um dieses Negativbild des Menschen von „dem Tier“ als reines Körperwesen. Und da würde ich möglicherweise einen Unterschied sehen zwischen instrumenteller Vernunft, die darauf aus ist, immer besser einen bestimmten Zweck zu erfüllen, und einem Tier, das vielleicht schon den Zweck der Selbsterhaltung - oder wie man das definieren will, Arterhaltung? - hat, aber wo im Leben des Tiers so viel Platz noch für andere Sachen ist, wo sich auch Naturwissenschafter_innen schwer tun würden zu behaupten, sie können für das ganze Verhalten einen Zweck finden, sondern manches ist einfach Verhalten von sozialen Lebewesen. Wie siehst Du das Verhältnis von instrumenteller Vernunft und „tierischer Selbsterhaltung“?
Man kann schon sagen, dass die instrumentelle Vernunft eine Art von Übertreibung des Menschen ist, in dem Sinne, dass die anderen Tiere keine Werkzeuge brauchen, sie haben ihren Körper und ihr soziales Verhalten - alles was sie brauchen, um zu überleben. Der Mensch erlebt gewissermaßen eine Art Ohnmacht gegenüber den anderen Tieren. Deshalb muss er Werkzeuge herstellen und das ganze Instrumentarium der Vernunft konstruieren, worin ich nur eine höchstvermittelte Art von tierischer Selbsterhaltung sehe, nicht etwas ganz Anderes als tierische Selbsterhaltung. Der Mensch drückt seine Beherrschung seiner Umwelt durch seine Werkzeuge aus und durch seine Begriffe, die er benützt, die eben Werkzeuge zur Beherrschung der Natur sind. Die anderen Tiere brauchen das nicht. Das Problem ist, dass eben dieses Verfahren des Menschen etwas Blindhaftes hat. Die instrumentelle Vernunft entwickelt sich, ohne eigentlich selbstbewusst zu sein. Warum sage ich das?  Weil wir eben durch die instrumentelle Vernunft in der Lage sind, unsere Welt zu zerstören - wir haben auch angefangen, die Welt zu zerstören oder mit Atomkriegen zu bedrohen. Das beweist, dass die instrumentelle Vernunft gewissermaßen mechanisch funktioniert, blindhaft funktioniert, und die instrumentelle Vernunft nicht die ganze Gestalt der Vernunft ist. Weil es gibt die Möglichkeit, über die instrumentelle Vernunft zu reflektieren und ein Selbstbewusstsein darüber zu haben. So sieht man, wie man die instrumentelle Vernunft mit dem tierischen Verhalten vergleichen kann und gleichzeitig, wo der Unterschied ist.

Du hast vorhin erklärt, wie die Zirkularität der Herrschaft funktioniert und wie dadurch ermöglicht wird, die Natur immer besser zu beherrschen. Meine Frage wäre: Gibt es keinen Ausgang aus dieser Zirkularität von Natur- und Menschenbeherrschung, ist kein Ausmaß der Naturbeherrschung sich einmal genug?

Ich würde so antworten: Von der einen Seite kann man die Zivilisation, also den Fortschritt der instrumentellen Vernunft, aus materiellen Gründen erklären. Nämlich dass die Unsicherheit des Menschen, die die Menschen durch die Beherrschung der Natur abschaffen wollten, eigentlich durch die Naturbeherrschung nicht abzuschaffen ist. Sondern es ergeben sich immer neue Widersprüche zwischen Mensch und Mensch, und Mensch und Natur, die neue Auflösungen benötigen. Aber wenn man diese Auflösung wieder nur durch die instrumentelle Vernunft versucht, führt das wieder zu neuen Widersprüchen. Von der anderen Seite würde ich auch sagen, dass diese Entwicklung genau in der Spaltung zwischen geistiger und materieller Arbeit ihre Gründe hat, eben in der Selbstständigkeit der geistigen Arbeit. Es gibt viele Begriffe, die wir jetzt benützen, die in the first place nicht als Begriffe der Naturbeherrschung gedacht wurden, sondern sie wurden „einfach so“, von der Mathematik, sozusagen als Spielerei des „freien Denkens“ erschaffen. Und sie wurden erst danach, eben weil wir diese Unsicherheit immer wieder erleben, Widersprüche immer wieder auflösen müssen, um der Naturbeherrschung Willen benützt.

Wenn wir auf der einen Seite die „tierische Selbsterhaltung“ haben, blind ablaufend, einem Zweck stur dienend, gibt es doch auf der anderen Seite bei Adorno auch eine andere Figur, wo es auch um Tiere geht, wo es aber eben darum geht, nicht einem Zweck zu folgen, sondern im Gegenteil: „nichts“ zu tun, genau wie Tiere auch keinem äußeren Zweck an sich dienen.


“Einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzierten. Genuss selbst würde davon berührt, so wie sein gegenwärtiges Schema von der Betriebsamkeit, dem Planen, seinen Willen Haben, Unterjochen nicht getrennt werden kann. Rien faire comme une bête [Wie ein Tier nichts zu tun, Anm.], auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, „sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung“ könnte an Stelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden. Keiner unter den abstrakten Begriffen kommt der erfüllten Utopie näher als der vom ewigen Frieden.“
Theodor W. Adorno, aus:
Sur l'eau (Fragment 100), in: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben
Das Bild der Natur, von dem ich geredet habe, ist das, was uns an der Natur erschreckt. Die Menschen erschrecken vor der Zerstörung, vor der Gewalt, vor dem Tod, die wir in der Natur erleben. Genau das projizieren wir gewissermaßen auf das Tier, das stimmt. Aber man kann auch nicht verneinen, dass es so etwas in der Natur gibt, und wir sozusagen von einer anderen Welt, von einer anderen Natur träumen, die wir vielleicht realisieren könnten. Das ist die Frage: Ob wir diese Möglichkeit verwirklichen können oder das eine Selbstillusion bleiben muss. Es stimmt auch, dass es bei Adorno deshalb dieses Bild vom Tier als friedliches Wesen, nicht in Kämpfen mit anderen Tieren, gibt. Es ist eine bestimmte Stelle in der Minimal Moralia, wo Adorno sagt, dass er sich die Utopie so vorstellt, dass die Menschen nichts mehr tun, wie Tiere. Er sagt, dass sie daliegen (lacht), die Zeit genießen und so weiter. Obwohl man auch da sagen muss, dass das wieder ein Traum ist und ein Bild von Tieren ist, das auch nicht ganz stimmt. Nicht ganz stimmt in dem Sinne, dass es auch an den Tieren etwas gibt, das nicht in dieses Bild passt. In seinen Moralschriften hat Adorno auch gesagt, dass das einzige moralische Prinzip, von dem wir heute sprechen können, ist uns wie „ein gutes Tier“ zu verhalten. Die Frage ist: Was ist ein gutes Tier? (lacht)

Jetzt war ja schon sehr viel die Rede von Natur und Vernunft und deren Verhältnis, wie das zu fassen sein könnte. Du hast ja auch genau zu diesem Thema einen Vortrag gehalten, über die Dialektik von Natur und Vernunft - kannst Du vielleicht in kurzen Worten erzählen, was Du da Wesentliches dazu gebracht hast?


„Alle Einzelnen sind in der vergesellschafteten Gesellschaft des Moralischen unfähig, das gesellschaftlich gefordert ist, wirklich jedoch nur in einer befreiten Gesellschaft wäre. Gesellschaftliche Moral wäre einzig noch, einmal der schlechten Unendlichkeit, dem verruchten Tausch der Vergeltung sein Ende zu bereiten. Dem Einzelnen indessen bleibt an Moralischem nicht mehr übrig, als wofür die Kantische Moraltheorie, welche den Tieren Neigung, keine Achtung konzediert, nur Verachtung hat: versuchen, so zu leben, dass man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein."
Theodor W. Adorno, aus:
Modelle: I. Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft, in: Negative Dialektik











In meinem Vortrag [Handout mit Zitaten als PDF] habe ich zuerst versucht zu zeigen, warum der Naturbegriff bei Marx doppeldeutig ist, seine Unstimmigkeiten, Unklarheiten darzustellen. Weil eben diese Unstimmigkeiten bei Marx wahrscheinlich die Ursache dafür sind, warum die Postmarxist_innen nicht in der Lage sind, das Naturproblem aufzulösen - warum sie also unsere Beziehung zur Natur nicht als solidarisch darstellen, sondern immer wieder die Natur und die Tiere zum Opfer der menschlichen Arbeit, der menschlichen Gesellschaft, der menschlichen Vernunft erklären müssen. In diesem Sinne habe ich Jürgen Habermas und Slavoj Zizek kritisiert und versucht zu zeigen, wie die humanistische  Position von Habermas und die antihumanistische Position von Zizek eigentlich eine scheinbare Opposition ausmachen, weil eben diese beiden Positionen zusammenfallen, indem sie die Natur nicht als Partner des Menschen, die Tiere nicht als Mitsubjekt verstehen, sondern nur als Objekte, also als nichtmenschlich sozusagen.

Um das Naturproblem aufzulösen braucht man die Kritische Theorie, braucht man die Frankfurter Schule. Theodor Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse haben versucht zu zeigen, wie die Natur als Subjekt zu denken ist. Die Natur als Subjekt zu denken heißt nicht, zum Anthropomorphismus zu zerfallen, oder zum Animismus, oder was weiß ich, sondern unser Verhältnis zur Natur zu verwandeln, zu transformieren, sodass es tatsächlich die Natur und die Tiere als Mitsubjekte ermöglicht.

Aber um diese theoretische Perspektive zu entwickeln, braucht man einige Vorbedingungen. Es muss zuerst, wie Marcuse sagte, unsere Sinnlichkeit revolutioniert werden. Es muss eine Revolution in der Sinnlichkeit stattfinden, sodass wir nicht mehr die Dinge wahrnehmen, wie die Herrschaftsgesellschaft uns zwingt, sie wahrzunehmen - eben als Objekte der instrumentellen Vernunft. Auf der anderen Seite muss auch die Gestalt der Vernunft sich verwandeln und sich verändern. Die Vernunft, die aktuelle Vernunft, also die heutige Vernunft, die Vernunft unserer Gesellschaft, muss als irrational denunziert werden, und hier muss man auch von dem dialektischen Sinn von Vernunft sprechen. Wir nehmen die Dinge in der Form wahr, die uns die Gesellschaft von oben sozusagen oktroyiert und deshalb sind wir nicht mehr in der Lage, die Dinge nicht als Objekte der instrumentellen Vernunft zu denken. Denken und Sinnlichkeit machen also ein dialektisches Verhältnis aus. Der dritte Punkt war, die Möglichkeit einer neuen Technologie zu entwickeln: eine versöhnende Technologie. Eine Technologie, die nicht der Natur notwendig Gewalt antut, sondern sich solidarisch an die Natur richtet. In diesem Zusammenhang habe ich von der Wichtigkeit der Kunst für diese utopische Vorstellung  von Technik gesprochen. Kunst und Technik sind nicht zu trennen, obwohl sie sich jetzt in einer Opposition befinden, obwohl die Technik funktional und eindringlich aussieht, während Kunst hingegen schön, also nutzlos und kontemplativ. Das Ziel wäre eine Revolution in unserem Verhalten - eine Technologie zu entwickeln, die die Spaltung zwischen Technik und Kunst überholt.


http://www.basisgruppe-tierrechte.org/Texte/interview_mm.htm

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